110 Jahre
Friedenskirche Grünau,
Festgottesdienst, 3. Advent 11. 12. 2016
Festansprache Dr. Jörg Antoine
Konsistorialpräsident der Evangelischen
Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott und
unserem Herrn Jesus Christus. Amen
„Postfaktisch" ist das Wort des Jahres 2016.
Wie treffend für dieses Jahr von verbreitetem Populismus in
Europa, von Brexit, Front nationale und US-Wahl. Nicht die
Fakten stehen im Mittelpunkt der politischen
Auseinandersetzung. Die Wahrheit einer Aussage tritt hinter
den Effekt der Aussage auf die eigene Klientel zurück. Es
wird gelogen, abgelenkt oder verwässert – ohne dass dies
entscheidende Relevanz für das Zielpublikum hätte.
Entscheidend für die von postfaktischer Politik
angesprochenen Wähler ist, ob die angebotenen
Erklärungsmodelle eine Nähe zu deren Gefühlswelt haben.
Es passt zur neuen Unübersichtlichkeit des
Internets, wo sich scheinbare Tatsachen binnen kurzer Zeit
ungeprüft verbreiten und nicht mehr eingeholt werden können.
In der tatsächlichen oder scheinbaren Anonymität des
Internets herrscht zudem ein rauer Ton. Es wird grob
beleidigt. Cybermobbing und Shitstorm sind Wortschöpfungen
des Internets und bezeichnen alltägliche Formen des
Missbrauchs des Internets. Auch dies färbt ab auf die
Politik. Der US-Wahlkampf bot auch in dieser Hinsicht so
einiges an persönlicher Diffamierung und Grenzverletzung.
Nicht alles neu. Auch Luther war nicht immer
zimperlich in seiner Wortwahl. Dass es auch schon in der
Bibel grob zuging, zeigt unser heutiger Predigttext:
PREDIGTTEXT: Lukas 3,1-14
Müssen wir uns beleidigen lassen, Ihr
Otterngezücht heißt es in der allerneuesten, am 31. Oktober
vorgestellten Lutherübersetzung – oder in der vorhergehenden
und uns noch vertrauteren Bibelübersetzung von 1984: Ihr
„Schlangenbrut".
Johannes der Täufer. Wer ist dieser Mann?
Der dort oben auf dem Bogen über der Apsis dargestellt wurde.
In der Mitte das Lamm Gottes, umgeben von zwölf Engeln,
Heilige, rechts Moses mit den Gesetzestafeln und links
Johannes der Täufer? Dessen historisierende, an
mittelalterliche Darstellungen anknüpfende Darstellung dort
wegen der Renovierungen zum 100 jährigen Jubiläum wieder zu
sehen ist. Nachdem die weiße Latexfarbe wieder entfernt
wurde. Latexfarbe, mit der die Bilder dieser Kirche in den
Sechzigern aus Mangel an Mitteln und in Unkenntnis der
Schädlichkeit von Latexanstrichen für das Gemäuer von
Kirchen überstrichen wurden. Johannes der Täufer, der nach
dem Matthäusevangelium ein Gewand aus Kamelhaar trug. Der
Jesus Kommen verkündigte, Jesus taufte, selbst gefangen
genommen wurde und noch vor dem Kreuzestod Jesus enthauptet
wurde, weil Herodes seiner Nichte für einen Tanz versprach
zu geben, was sie wollte. Sie forderte auf Bitte ihrer
Mutter den Kopf von Johannes und bekam ihn wie gewünscht auf
einer Schale gereicht.
Haben wir am 3. Advent 2016 nun noch
zusätzlich einen wie Johannes, den Täufer, nötig? Mit seiner
schroffen Erscheinung, seinem herben Tonfall?
Ja, Johannes, der Täufer, ist notwendiger
als zuvor. Aber was unterscheidet ihn von den zornigen
Männern unserer Tage.
Johannes predigt und tauft in der Wüste.
Mehr noch: Er selbst lebt in der Wüste.
Wüste ist dort, wo eigentlich kein Mensch
existieren kann, aber wo doch immer Menschen waren und
manchmal lange blieben. In der Wüste hielten sich Menschen
auf, die sich dem Zusammenleben in der Gemeinschaft
entziehen mussten oder wollten. Sie war Zuflucht für
Verfolgte und Flüchtlinge, Aufenthaltsort für Ausgestoßene,
Rebellen, Räuber und Nomaden. Und sie war auch der Ort, wo
wie in Qumram ein Leben in Buße, Umkehr und Abkehr von der
Welt gelebt wurde.
Johannes posiert nicht in unbequemen,
goldenen Sesseln hoch über New York. Er kann erhobenen
Hauptes dastehen. Er ist nicht von übermäßigem Reichtum
umstellt, beengt und bedrückt.
Er hält sich nicht für unsterblich, nicht
für unersetzlich. Johannes beschreibt das Ende seiner
Amtszeit auf eigenwillige, auf gottgegebene Weise:
Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber
der, der stärker ist als ich; ich bin nicht wert, dass ich
ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem
Heiligen Geist und mit Feuer taufen.
Johannes hat erkennbar keine politische
Macht beansprucht. Was war es, das ihn so gefährlich gemacht
hat? Den Mann, der keinen Palast beanspruchte, sondern in
der Wüste lebte, nicht mit Purpur bekleidet war, sondern ein
Kamelfell trug, der niemanden etwas wegaß, sondern von
Heuschrecken und Honig lebte.
Die Beleidigung der Zuhörer als
Otterngezücht? Die Androhung des Zorns Gottes? Die
Aufforderung Buße zu tun? Nun, das taten andere Propheten
auch. Als allgemeine Mahnung hat es ja auch etwas
Erbauliches. Kann sogar verstanden werden als Aufforderung,
die Gebote der allgemeinen Ordnung einzuhalten. So wie die
Schirmherrin für die Erbauung dieser Kirche: die
evangelische Kaiserin Auguste Viktoria, sich mit dem Bau von
Kirchen erhoffte, die Bevölkerung und vornehmlich die
Arbeiterschaft zu rechristianisieren und das Zweite Deutsche
Reich in der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert
mithilfe des Bündnisses von Thron und Altar zu
stabilisieren. Kirchen, damit die Arbeiterschaft nicht auf
dumme Gedanken wie eine Revolution kommt.
Bilder auf dem Bogen vor der Apsis, auf
die in der Predigt eingegangen wird.
Johannes der Täufer weist
auf den kommenden
Christus hin, Foto: 1932
Beide Bilder stammen
aus dem Original - Ausmalprogramm der
Friedenskirche von 1906 und wurden um 1960
übermalt. Das
Lamm Gottes konnte 2006 freigelegt werden.
Anlässlich des
110. Kirchweihjubiläums erschien eine Text-
und Bilddokumen-
tation zur Gesamtinnenausmalung der Kirche.
© Kirchengemeinde Bohnsdorf - Grünau
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War es dann die im Matthäusevangelium
zitierte Ankündigung von Johannes „Tut Buße, denn das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen". Oder in unserem
Predigttext: „Und alles … wird das Heil Gottes sehen."
Machte dies ihn zu einem politisch gefährlichen
Revolutionär? Aber auch das im Grunde zu allgemein und
auch in seiner Zeit nicht anstößig. Die Nähe der
Erfüllung der Verheißungen des Volkes Israels; ein
allgemeiner Wunsch seiner Zeit, eine gern gehörte
Botschaft und begrüßte Vergewisserung der Besonderheit
des Volkes Israels. Und sie fragen Johannes: bist Du
etwa Elia, der in diesen Tagen wieder kommen soll. Nein,
ist er nicht.
Auch hier ist Johannes keine Gefahr.
Nein, schwer zu ertragen wird Johannes gewesen sein, wo
er konkret wurde. Johannes lebt in der Wüste, aber nicht
mit dem Kopf im Sand. Er sieht sehr klar in die
Gesellschaft und benennt, hebt heraus, wer noch an sich
zu arbeiten hat. Den Wohlhabenden sagt er: „Wer zwei
Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu
essen hat, tue ebenso". Die Zöllner ermahnt er: „Fordert
nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist!". Und als die
Soldaten fragen: „Was sollen wir denn tun?" antwortet
Johannes: „Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst
euch genügen an eurem Sold!" Die Wohlhabenden, die
Beamten, die Soldaten – sie haben Macht im Alltag in
Israel. Sie schrecken Johannes nicht. Er hebt sie heraus
nicht als die Spitzen der Gesellschaft, nein gerade sie
müssen Umkehr und Buße tun. Aber das Maß war voll als
Johannes den König Herodes wegen des Ehebruchs mit
Herodias, der Frau von dessen Bruder, und „all des
Bösen, das er getan hat" zurechtgewiesen hat. Johannes
wird in Haft genommen.
Wer hätte das gedacht? Heißt es nicht
bei Jesaja, dem Wochenspruch für diese Woche: „Bereitet
dem Herrn den Weg, denn siehe der Herr kommt gewaltig."
Gewaltig wird der Herr auch in unserem Predigttext
angekündigt: Die Täler sollen erhöht werden, die Berge
und Hügel sollen erniedrigt werden, und was krumm ist
soll gerade werden und was uneben ist, soll ebener Weg
werden auf dem der Herr hereinzieht. Eine gewaltige
Inszenierung. Und Johannes kam an, überzeugte nicht nur
Einzelne, sondern sprach zu der Menge, die hinausging,
um sich von ihm taufen zu lassen.
Wer dachte da nicht an eine Erhöhung des
Predigers in der Wüste. Es ist dann doch anders
gekommen. Der, der das ankündigt, landet im Gefängnis
und wird enthauptet.
Anders gekommen ist es auch mit dieser
Kirche. Friedenskirche am Vorabend des Ersten
Weltkriegs. Die Kaiserin Auguste-Viktoria, auch
„Kirchenjuste" genannt, weil sie mit einem gewaltigen
Bauprogramm rund 75 Kirchenbauten in und um Berlin
errichtete, vornehmlich in den neuen Arbeiterquartieren
zur „Bekämpfung des religiös-sittlichen Notstands".
Die typischen hohen, roten Backsteinkirchen in Berlin.
Kein Wunder, dass sie sich so ähnlich sehen. Sie sind
auch fast alle gleich alt, 110 Jahre, 120 Jahre. Doch
auch andernorts trug die Bauwut Früchte. So weihte die
evangelische „Kaiserin Auguste Victoria Stiftung" in
Jerusalem 1914 die Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg ein.
Der Erste Weltkrieg, die in diesem
Weltkrieg gefallenen Soldaten, an die auch das Denkmal
in dieser Kirche erinnert, die Revolution von 1918, das
Ende von Thron und Altar, der Zweite Weltkrieg, den
diese Kirche zunächst weitgehend unbeschädigt überstand.
Dann aber am 23. April 1945 mit dem Einmarsch der Russen
in Grünau die schwere Plünderung und Verwüstung dieser
Kirche, der langsame Verfall dieser
Kirche während der DDR-Zeit und ihre umfassende
Sanierung nach dem Fall der Mauer.
Wo stehen wir heute – als Kirche im
wachsenden Berlin? In der voller werdenden Stadt. Dem
knapper werdenden Wohnraum. Dem Zuzug in den Speckgürtel
Berlins. Ein Speckgürtel, der auch bei uns Gemeinden im
Speckgürtel wachsen ließ oder zumindest manch Gemeinde
vor einem massiven Schrumpfen bewahrte. Auch wenn wir
die eine oder andere Kirche neu bauten, weil die kleinen
Dorfkirchen den Gemeindewachstum nicht aufnehmen
konnten. Was wünschen wir uns heute? Was ist unsere
Botschaft in diese Zeit?
Vielleicht auch hier ein Blick zurück
auf Johannes und die Kaiserin Auguste-Viktoria.
„Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte
der Buße." sagt Johannes. Wer mehr hat als er zum Leben
braucht, soll Teilen mit dem, der zu wenig hat. Es ist
heute leicht gesagt, dass die Kaiserin Auguste-Viktoria
manch einem Irrtum unterlag. Die militärische Aufrüstung
in ihrer Zeit, die kolonialen Expansionen aller
europäischen Mächte, der sich verstärkende
Nationalismus, die emotional aufgeladene Bevölkerung.
Die miteinander verheirateten europäische Königs- und
Kaiserhäuser haben die Gefahren unterschätzt und als sie
gefordert waren nichts aufhalten können oder wollen.
Die Kaiserin Auguste-Viktoria war tief
fromm. Galt am Hof als etwas naiv. So naiv, dass sie die
einfachsten Fragen stellte und ganz naiv antwortete:
"Ich halte es für ungerecht, dass die armen Leute so
wenig Resultate ihrer Arbeit sehen und genießen. Wie
können wir Höhergestellten, wenngleich wir Sympathien
für diese Frage haben, ihnen helfen? Ich meine, dass es
unsere heilige Pflicht ist, nicht nur nach der eigenen
Behaglichkeit zu streben, sondern das Glück anderer zu
fördern."
Der von der Kaiserin gegründete
Evangelisch-kirchliche-Hilfsverein, aus dem auch der
Evangelische Kirchenbauverein hervorging, widmete sich
gezielt der sozialen Frage. Den verwahrlosten Kindern,
den Kranken und Alten, den Mädchen vom Lande, die mit
Hoffnung auf Arbeit in der Großstadt, in der
Prostitution landeten.
Wir haben in Berlin noch heute das
Auguste-Viktoria Krankenhaus und in Israel das von der
Evangelischen Kirche betriebene
Auguste-Viktoria-Hospital. Ein Akutkrankenhaus – wo vor
allem für die Palästinenser eine unersetzliche
medizinische Versorgung erfolgt.
Wir sind bekanntlich keine wohlhabende
Landeskirche. Aber dennoch leisten wir uns – mit
Unterstützung der Bundesrepublik - bei Bethlehem eine
Schule, die Christen und Muslimen und an sich auch Juden
offen stünde. Eine Schule, wo die Schülerinnen und
Schüler eine gute Ausbildung erhalten, religiöse
Toleranz lernen, für Menschenrechte und Demokratie
eingenommen werden. Die Schülerinnen und Schüler dieser
Schule nehmen mit ihrer guten Ausbildung im
Westjordanland hohe Stellungen in Politik, Verwaltung
und Wirtschaft ein. Und wenn Sie sich fragen, warum es
im Westjordanland bislang trotz der schwierigen
Situation nicht zu der islamistischen Radikalisierung
wie in Gaza gekommen ist. Dann ist auch hier ein
wesentlicher Baustein.
Es mag naiv sein, aussichtslos in
Israel, das sich dieser Tage wieder anschickt seine
rechtswidrige Besiedlungspolitik weiter zu verfestigen,
naiv darauf mit einer Schule Frieden schaffen zu wollen.
Aber wer hätte das gedacht: dass eine
Schule unserer Kirche seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts bis heute Tausenden von jungen Menschen
eine Perspektive gegeben hat und immer noch gibt. Dass
ein evangelisches Krankenhaus noch nach hundert Jahren
in Jerusalem Palästinenser medizinisch gut versorgt.
Dass diese Kirche, die Friedenskirche nicht verfallen
ist, sondern die Zeiten überstanden hat. 110 Jahre sind
zwar kein Alter für eine Kirche. Für 110 Jahre hat diese
Kirche viel erlebt. Und sie steht noch da, herrlich
restauriert, offen auch für die Stadtteilarbeit in
diesem Bezirk. Wir dürfen uns weiterhin von Johannes,
dem Mann aus der Wüste, zu der Frage anregen lassen: Was
sollen wir tun? Und wenn wir zurück schauen auf Johannes
den Täufer und auch uns von seiner Anspruchslosigkeit,
seinem klaren Blick, seinem Mut anstecken lassen, dann
wissen wir auch heute, was in einer Zeit des
„postfaktischen" zu tun ist.
Und der Friede Gottes, der höher ist als
unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in
Jesus Christus. Amen.
© Dr. Jörg Antoine
Das Lamm Gottes umgeben von Engeln,
Foto: 2014
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